Wodka und Trinkgewohnheiten

Stellen Sie sich vor, Sie halten ein Glas Wodka in der Hand. Was fällt Ihnen ohne lange zu überlegen dazu ein? Ja, das ist ein alkoholisches Getränk, kristallklar und von bester Geschmacksqualität. Ist das schon alles?
Nein. Denn der Wodka birgt noch viele Geheimnisse in sich.

Wodka ist heute der meistverkaufte Branntwein der Welt. Die bekanntesten Wodkas kommen aus Russland, Polen oder Finnland. Doch ohne Zweifel wird das Wort Wodka in der ganzen Welt in erster Linie mit Russland assoziiert. Wodka ist im Russischen weiblich und eine Koseform von Wasser - "Wässerchen". Woher kommt überhaupt der Wodka? Zur Entstehung des Wodkas in Russland gibt es verschiedene Thesen. Die zwei wesentlichen streiten darum, ob Wodka nun ein altes russisches Getränk ist oder nicht. Die Wahrheit liegt aber in der Mitte. Die harten Getränke sind in Russland seit dem 11. Jahrhundert bekannt und der Wodka wurde ursprünglich aus Korn gebrannt. Auf die Kartoffel als Ausgangsprodukt kam man erst später, als sie im 16. Jahrhundert nach Europa und im 17. Jahrhundert dank Peter dem Großen in Russland eingeführt wurde. Das technische Verfahren zur Herstellung des reinen Wodkas stammt eher aus dem Westen. Peter der Große brachte es aus seinem geliebten Holland mit.

Die große Kunst der Wodkabereitung liegt in der Weichheit und Reintönigkeit des Geschmacks. Die Zusätze dürfen geschmacklich kaum zu spüren sein. Es darf auch nicht feststellbar sein, ob Sprit, Korndestillat oder eine Mischung beider den Alkohol liefert.
Genaue Rezepturen waren immer ein Geheimnis. Wesentlich für den außerordentlich weichen, klaren, geschmacklich neutralen Wodka ist auch die mehrfache Destillation und Rektifikation. Ein gängiges Urteil besagt "Wodka macht keinen schweren Kopf". Das stimmt, denn bei einem qualitativ guten Wodka sind alle Stoffe außer seinem Alkohol und Wasser herausgefiltert und destilliert, im Gegensatz zu Whiskies oder Cognac, die durch die Fasslagerung geringe Fremdstoffe enthalten. Die Lagerung von Wodka dagegen hinterlässt keine Einwirkungsspuren, da er in Stein- oder Glasbehältern ruht. Die gesamte Geschichte der russischen Kultur ist untrennbar mit dem Wodka verbunden. Es wird sogar behauptet, der Kiewer Fürst Wladimir habe im Jahre 988 wegen des Wodkas das Christentum und nicht etwa den Islam als Landesreligion angenommen.

Der Wodka ist das Nationalgetränk der Russen, getrunken von Jung und Alt, Arm und Reich, an Werk- wie an Feiertagen. Die Halbliterflasche mit dem schlichten Etikett war in jedem russischen Haus zu allen Zeiten ein gern gesehener Gast. Sie überstand die Revolution, Kriege und Perestroika. Vieles musste sie erdulden. Wodka wurde verdünnt, schwarz gebrannt, gestohlen, auf Karten verkauft, verboten. Man kaufte den Wodka bei Spekulanten, Hausmeistern, Taxifahrern, Nachtwächtern. Mit ihm wurden Erkältungen kuriert, der Verstorbenen gedacht, Brautpaare beglückwünscht, Jubiläen begangen, die Schwermut ertränkt. Ob der Kauf des ersten Autos oder der Freikauf der Braut bei den Schwiegereltern: von Moskau bis Wladiwostok sind in diesen Fällen mindestens 100 Gramm Wodka fällig. Viele Russen schreiben dem Wodka außerdem mythische Eigenschaften zu: Pur oder zusammen mit Honig, Pfeffer oder Kräutern soll er nicht nur Erkältungen, sondern auch ernsthafte Krankheiten besiegen. Selbst sowjetische Atomwissenschaftler sollten sich mit ausreichend Wodka gegen Strahlenschäden gewappnet gefühlt haben.
Mehr noch. Der Wodka spielte in der Wirtschaft des russischen Staates schon immer eine große Rolle. Nach einer offiziellen Statistik wird die Hälfte des weltweit produzierten Wodkas in Russland verbraucht. Das scheint sehr viel zu sein. Doch in Russland werden nach wie vor außer Wodka vergleichsweise wenig andere alkoholische Getränke konsumiert. Ist es vielleicht mit dem harten Klima verbunden? Möglicherweise auch.

Der hohe Wodkakonsum ist nicht nur auf eine besondere Vorliebe der Russen für harte Getränke zurückzuführen, sondern auch auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem Problem der Trunkenheit. Der Staat hatte an einer Mäßigung des Wodkaverbrauchs nie Interesse. Und das Staatsmonopol auf den Wodkahandel, das von Peter dem Großen eingeführt wurde und im Verlaufe der Geschichte mehrfach aufgelöst und wiederhergestellt wurde, war dazu ein gutes Mittel.
Mit seiner Einführung erreichte der Staat das Ziel, das von Iwan dem Schrecklichen gesetzt und von Stalin realisiert wurde: die totale Kontrolle des Alkoholumsatzes. Auch der sowjetische Staat war davon in großem Maße abhängig. Unter der Sowjetmacht erstreckte sich das Monopol nicht nur auf den Handel, sondern auch auf die Produktion selbst.
Michail Gorbatschow war derjenige, der mit der Vergiftung des Volkes aufhören wollte und seine Antialkoholkampagne startete. Offiziell fiel der Alkoholverbrauch dabei auf 64%. Aber der Selbstgebrannte kompensierte den Mangel an staatlichem Alkohol; den optimistischen Meldungen der ersten zwei Jahre folgte eine erschreckende Statistik von Krankheiten und Unfällen, die auf Trunkenheit und Konsum von Surrogaten zurückzuführen waren. Der Wegfall der Einnahmen vom Wodkaverkauf beschleunigte die Inflation und radikalisierte die Wirtschaftskrise. Das Geschäft mit den Spirituosen fiel unter Mitwirkung korrupter Staatsbeamter in die Hände der Mafia. Als Jelzin an die Macht kam, sah er, dass die heimische Produktion nicht in der Lage war, die Nachfrage nach Wodka zu befriedigen. Und er erlaubte den Massenimport harter Getränke. So wurde all das nach Russland geschafft, was im Westen nur äußerst ungern getrunken wurde. Die russischen Schnapsimporteure wurden innerhalb eines Jahres zu den ersten Millionären des Landes. In den letzten zehn Jahren sind viele neue Wodkasorten entstanden und man hat kaum noch einen Überblick.

Doch die Entwicklung der freien Marktwirtschaft in Russland verlangte auch von den einheimischen Wodkaproduzenten Innovationen, die nicht unbedingt Qualitätsverbesserung bedeuteten. So zum Beispiel entstand vor einigen Jahren der so genannte "Russischer Joghurt" - ein durchsichtiger Plastikbecher mit 100 ml klarer Flüssigkeit, hermetisch versiegelt. Der Becher trug den lakonischen Aufdruck "Russischer Wodka". Diese Neuheit wurde an vielen Straßenständen verkauft. So plötzlich er erschien, so schnell verschwand er auch wieder vom Markt. Der Grund war der Plastikbecher, der in der Reaktion mit Wodka Giftstoffe freisetzte.
Vor einigen Jahren wurde übrigens wieder das Staatsmonopol auf den Wodkahandel eingeführt.

Nun aber genug von der Politik! Wie wird denn der Wodka im heutigen Russland getrunken? Genau so wie vor 50 Jahren: auf dem Dorf aus Wassergläsern, in der Stadt aus Schnapsgläsern. Das Wort für "Alkohol trinken" heißt wörtlich übersetzt "austrinken" und das "Was" braucht man dabei gar nicht mehr zu erwähnen, man versteht es auch so. Es gibt drei goldenen Regeln des Wodkatrinkens:

Erstens: Zum Essen, nicht davor und nicht danach. Zum Wodka gehört auch ein handfester Imbiss: saure Gurken, Wurst, Sauerkraut, hausgemachte Sülze, Salate. Süßes oder in westlichen Ländern beliebte Partysnacks kommen nicht in Frage. Zum Wodka gehört auch manchmal ein zusätzliches Getränk wie Mineralwasser oder Saft, das man nach dem Wodka trinkt, um das Brennen herunterzuspülen. In der zaristischen Zeit hat man sogar vor dem Wodka einen Becher feinsten Sonnenblumenöls getrunken, um damit Kehle, Schlund, Magen und Eigenweide einzusalben und so den Wodkaströmen standhalten zu können. Übrigens ist es in Russland nicht üblich, unterschiedliche, zu den einzelnen Gängen passende Getränke zu servieren. Alle Sorten stehen auf dem Tisch und können nach Belieben zusammen oder nacheinander getrunken werden - auch Wodka und Cognac. Man kann in Russland kaum erleben, dass geöffnete Wodkaflaschen nicht ausgetrunken, sondern in den Schrank zurückgestellt werden. Übrigens, die einheimischen Wodkaflaschen waren zur Sowjetzeit traditionell nicht wieder verschließbar. Wenn man sich zu einer Festlichkeit verspätet, wird man bestraft. Man bekommt ein großes Glas voll Wodka. Das Glas hat keinen Fuß, es kann also nicht abgestellt werden und muss ausgetrunken werden. Vielleicht sind die Russen deshalb nicht so pünktlich?

Zweitens: Man trinkt niemals weniger als 50 Gramm in einem großen Schluck und nicht still in sich hinein, sondern in der Runde und im Takt der Trinksprüche. "Trinken ohne Trinkspruch ist Trinksucht", besagt ein altes russisches Sprichwort. Viele lange Trinksprüche kommen auch aus dem Georgischen. Das kann ein Wunsch für Glück oder Gesundheit sein, dem oft ein Witz vorausgeht. So ein stilistisch abgerundeter Trinkspruch ist eine Kunst für sich: Wodka ist Gift, Gift ist Tod, Tod ist Schlaf, Schlaf ist Gesundheit. Wollen wir auf unsere Gesundheit trinken! Oder: Wir wünschen allen Frauen, dass sie nur von schönen und exotischen Tieren umgeben sind. Dass sie einen Jaguar in der Garage haben, einen Tiger im Bett, einen Zobel um die Schultern und einen Esel, der das alles bezahlen kann.

Drittens: Gleich nach dem Schlucken muss man in etwas Salziges oder Scharfes beißen oder sogleich mit dem Essen beginnen, in dessen Verlauf die ganze Prozedur zu wiederholen ist. Es muss erwähnt werden, dass der Genuss des ersten Gläschens Wodka für die Russen ein bedeutsamer und zutiefst intimer Akt ist. Jeder vollzieht auf ganz eigene Weise, mit eigenen Gesten und Worten. Und nun stellen Sie sich vor, dass Sie nicht einfach ein Glas mit 100 Gramm kristallklarem Wodka in der Hand halten. Werfen Sie einmal einen Blick in Ihr Glas. Dort spiegelt sich die Geschichte eines mächtigen Landes und seines leidgeprüften Volkes wider, ein Auf und Ab mit Erfolgen und Niederlagen - und mit Widersprüchen, die unüberwindlich scheinen. Der berühmte russische Schriftsteller Fjodor Tjutschew hat einmal gesagt:

Russland ist mit dem Verstand nicht zu begreifen,
mit der gewöhnlichen Elle nicht zu messen;
Russland hat einen besonderen Charakter -
An Russland kann man nur glauben

Wodka

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